Edward J. Khantzian (im Folgenden: EJK) war ein amerikanischer Psychologe der ersten Generation. Er war armenischer Abstammung und bis zu seinem Tod im Jahr 2021 als einer der bedeutendsten, wenn auch vielleicht wenig populären lebenden Forscher auf dem Gebiet der Psychologie und der Suchtbehandlung. In diesem Beitrag möchte ich einen Sammelband seiner Schriften, die zwischen 2000 und 2016 erschienen sind, zusammenfassen und vorstellen.
Inhaltsverzeichnis
Die Distanzierung von der psychoanalytischen Interpretation
In der orthodoxen psychoanalytischen Sichtweise wurden Vergnügungssucht, Festgefahrenheit auf der oralen Ebene, Todessehnsucht und der Drang zur Selbstzerstörung als die Wurzeln des Suchtverhaltens definiert. EJK distanziert sich von der orthodoxen psychoanalytischen und psychodynamischen Auffassung von Süchten.
Damals glaubten Psychologen, dass Süchtige durch den Substanzkonsum Vergnügen und Genuss suchen, während sie sich tief in ihrem Inneren nach Tod und Zerstörung sehnen. (Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass sich die Kritik von EJK eher auf die orthodoxen analytischen Tendenzen der frühen 1960er und 1970er Jahre bezieht, während modernere Ansätze in dieser Hinsicht heute flexibler sind). EJK widerlegt diesen Ansatz auf Grundlage seiner eigenen Forschung und therapeutischen Erfahrung.
Aus diesen Erfahrungen entwickelte sich die heute weit verbreitete und angewandte Selbstmedikationshypothese und ein möglicher Ansatz für die Suchtbehandlung und -beratung.
Die Hypothese der Selbstmedikation
Nach EJK ist die Quelle der Sucht menschliches Leiden und die Bewältigung unerträglicher, oft traumatischer Gefühle. Im Mittelpunkt des sorgfältig ausgearbeiteten Konzepts stehen die menschlichen Gefühle. Gefühle sind die Grundlage der Selbsterfahrung, sie sind die Grundlage des Wohlbefindens und des Selbstwertgefühls.
Gefühle sind die Währung menschlicher Beziehungen und Bindungen, und es ist in erster Linie das emotionale System – und nicht das rationale Denken –, das das Verhalten steuert.
Traumatisierung und emotionale Vernachlässigung schädigen und degradieren das emotionale System, was unter bestimmten Bedingungen zu Abhängigkeit führen kann. Die Theorie von EJK ist insofern einzigartig, als sie eine konkrete Beschreibung dieser Bedingungen, die zur Abhängigkeit führen können, liefert. Ich fasse sie hier in fünf Punkten zusammen:
1. Eine unerträgliche Gefühlswelt
Während Licht und Geräusche uns die Realität der Außenwelt vermitteln, machen Emotionen unsere eigenen inneren Zustände zugänglich. Traumatische Erlebnisse und Vernachlässigung schaffen eine subjektive emotionale Realität, als lebten wir in einem unerträglichen Lärm. Emotionen sind dann schmerzhaft und verursachen Leiden.
Und wenn sie nicht mehr auftauchen, weil sie von unserem inneren Funktionieren unterdrückt werden, sind sie unzugänglich und/oder unerkennbar, unbenennbar geworden. Es ist, als ob man von Reizen überflutet wird oder unfähig ist, sie zu erkennen.
Ein Süchtiger kann leicht Aufregung mit Scham verwechseln, Stolz mit Angst.
Die innere Welt wird chaotisch und unübersichtlich. Das ist der Ausgangspunkt der Sucht.
2. Spezifische Substanzwahl
Jede Gefühlswelt reagiert auf bestimmte Substanzen in einer bestimmten Weise. Dies erklärt unter anderem, warum eine abhängige Person bestimmte Substanzen bevorzugt, so die EJK.
- Opiate dämpfen Emotionen, die von Gewalterfahrungen und Wut geprägt sind.
- Mäßiger Alkoholkonsum lockert inakzeptable, auch kulturell gehemmte Gefühle gegenüber sich selbst und anderen.
- In größeren Mengen kann Alkohol Zugang zu tief unterdrückten Gefühlen verschaffen.
In gewisser Weise öffnen alle Substanzen verschlossene Türen zur Gefühlswelt des Menschen.
Dies ist die Grundlage der Hypothese der Selbstmedikation, denn sie zeigt, dass Drogen, Substanzen und Verhaltensweisen sowohl Medikamente als auch Gifte für die innere Welt sind. Sie sind vorübergehend Medikamente, weil sie Leiden lindern, aber bei regelmäßigem Gebrauch werden sie in den meisten Fällen zu tödlichen Giften.
3. Emotionale Fehlregulation
Die Hypothese besagt, dass es wichtig ist, die Auswirkungen der Substanz auf die beschädigte Gefühlswelt zu erkennen und anzuerkennen. Deshalb ist eine der ersten Fragen, die EJK seinen Klienten in der Therapie stellt: „Was macht die Substanz mit Dir? Wobei hilft sie Dir?“ Auf der Grundlage von fast fünf Jahrzehnten therapeutischer Erfahrung ist das wichtigste Ergebnis, dass der Konsum Kontrolle über das Gefühlsleben bringt.
Das Gefühlsleben des Süchtigen ist geprägt von Kontrollverlust, Chaos und Orientierungslosigkeit. Was der Süchtige in erster Linie sucht, ist nicht Vergnügen und Genuss (natürlich sucht er auch das), sondern die Fähigkeit zur Kontrolle.
Der Substanzmissbrauch wirkt auf die meisten Süchtigen wie ein Seemann, der im Sturm die See beruhigen kann.
Diese Erfahrung ist elementar und befreiend, und es ist nicht verwunderlich, dass Segler, die auf stürmischer See unterwegs sind, süchtig nach der Wundersubstanz werden. Das gilt selbst dann, wenn die Substanz Leiden verursacht: Kontrolliertes, strukturiertes Leiden ist immer erträglicher als chaotisches, unkontrollierbares Leiden.
4. Fehlerhafte Bindung
Süchtige sind oft unfähig zu Intimität, tiefen emotionalen Beziehungen zu anderen Menschen, Offenheit und intimer Sexualität.
Hinter der Sucht steht ein Trauma, und dieses Trauma wurde durch eine andere Person verursacht. Daher hat der Süchtige unwillkürlich Angst vor menschlicher Intimität.
Laut EJK berichten seine Klienten oft, dass sie sich kalt, gefroren und distanziert fühlen und nicht in der Lage sind, ihre Gefühle auszudrücken, wenn sie mit anderen zusammen sind. Diese Unfähigkeit, sich mit anderen zu verbinden, ist eine – vielleicht die wichtigste – Ursache der Sucht. Andere Autoren definieren Sucht daher als Bindungsstörung.
Opiate können die Wut auf andere beruhigen und eindämmen. Alkohol löst das Gefühl der Gefahr auf, das mit der Bindung an eine andere Person verbunden ist. Stimulanzien haben die Fähigkeit, Mauern der Hilflosigkeit und Hemmungen zu durchbrechen, sodass die Person eine Verbindung zu einer anderen Person aufbauen kann.
5. Das Defizit der Selbstversorgung
Nicht jeder, der sich im Chaos einer traumatischen und unverarbeiteten Gefühlswelt befindet, wird süchtig, auch wenn er die befreiende Kraft von Drogen oder Alkohol erlebt hat. Was viele Menschen davor bewahrt, ist nichts anderes als ihre entwickelte Fähigkeit zur Selbstfürsorge.
Die beiden Säulen dieser Fähigkeit sind die Selbsteinschätzung und die Fähigkeit, gefährliche Situationen und Handlungen zu erkennen.
EJK sagt, dass die meisten Süchtigen im gewöhnlichen Sinne des Wortes nicht erkennen, dass das, was sie tun, sie zerstört. So wie die meisten Menschen Einsteins Relativitätstheorie nicht verstehen.
Es sei falsch, das Phänomen mit den traditionellen psychoanalytischen Kategorien wie Todestrieb oder Verleugnung zu erklären. So wie der Süchtige nicht in der Lage ist, seine eigenen inneren Gefühle in der richtigen Frequenz zu hören, so ist er auch nicht in der Lage, sich die Gefahren des Drogenmissbrauchs kognitiv und emotional bewusst zu machen.
Probleme mit der Selbstfürsorge beschränken sich nicht nur auf den Substanzkonsum: Süchtige vernachlässigen oft auch andere Bereiche ihres Lebens: Sie kleiden sich unangemessen, pflegen sich nicht richtig, bezahlen ihre Rechnungen nicht pünktlich oder halten ihre Wohnung nicht in Ordnung.
Diese fünf Faktoren beschreiben das psychodynamische Konzept der Sucht. Laut EJK steht die Selbstmedikationshypothese nicht in Konkurrenz zu anderen Ansätzen und versucht auch nicht, diese zu widerlegen. Die Hypothese ist jedoch aus der therapeutischen Praxis heraus entstanden und gibt den Helfern konkrete und greifbare Werkzeuge für die tägliche Hilfe, Therapie oder Beratung an die Hand. Sie gilt für Alkoholismus ebenso wie für andere Suchterkrankungen.
Grundregeln für die therapeutische Beratung
Laut EJK ist die Grundlage der Therapie die Freundlichkeit und Offenheit des Therapeuten, dessen Ziel es ist, dem Klienten Trost und Erleichterung zu verschaffen. Der Therapeut sollte sich auf den aktuellen Zustand des Klienten einstellen, sich emotional auf ihn einlassen und das Gespräch aus dieser eingestimmten Beziehung heraus beginnen.
Einfühlungsvermögen und Gegenseitigkeit
Grundsätzlich sollte der Therapeut einfühlsam und geduldig sein und Konfrontationen, Belehrungen und Moralpredigten vermeiden. Andererseits sollte es das Ziel sein, dem Klienten Orientierung zu geben, wenn er bereit ist, diese anzunehmen.
Therapie erfordert gegenseitigen Respekt und Anerkennung zwischen den Parteien, und der Therapeut kann es sich nicht leisten, den Klienten herablassend oder respektlos zu behandeln. Der Therapeut muss eine ausgewogene Kommunikation anstreben: Er muss seinem Klienten erlauben, frei zu sprechen, und er muss auch seine Meinung sagen.
Die eigene Gefühlswelt entdecken
Der Therapeut muss das komplexe Suchtsystem verstehen: Er muss die individuelle Lebensgeschichte des Klienten verstehen und die psychologischen und sozialen Einflüsse hinter dem Substanzkonsum erforschen.
Er muss sensibel für die schmerzhaften und unerträglichen Gefühle des Klienten sein und diese validieren. Es ist von entscheidender Bedeutung, dem Klienten konkrete Werkzeuge an die Hand zu geben, um seine eigene Gefühlswelt zu erforschen und zu akzeptieren. EJK ist der Ansicht, dass der Mentalisierungsansatz in dieser Hinsicht sehr effektiv ist.
Es ist wichtig zu verstehen – und dies dem Klienten zu vermitteln -, wozu der Substanzkonsum dient.
Eine der ersten Fragen, die dem Klienten in jeder Sitzung gestellt werden sollte, ist daher, wozu der Substanzkonsum dient, welche Schmerzen damit behandelt werden.
Der Therapeut muss auch sensibel für Anzeichen einer Störung der Selbstfürsorge sein, und in diesem Fall ist es wichtig, dem Klienten seine Besorgnis mitzuteilen. Die Therapie kann also auch eine erzieherische Funktion haben: Der Therapeut hat die Aufgabe, auf die Folgen des Substanzkonsums hinzuweisen, er kann aber auch auf andere Anzeichen eines Defizits an Selbstfürsorge aufmerksam machen.
Einzeltherapie und Selbsthilfegruppen
Der Therapeut muss offen damit umgehen, dass die Einzeltherapie nicht für alle Abhängigen die Lösung ist. Deshalb sollte er seinem Klienten auch alternative Wege aufzeigen. EJK betont die Bedeutung der therapeutischen Gemeinschaften und der Anonymen Alkoholiker für die Genesung.
Die Bewegung der Anonymen Alkoholiker sei einer der erfolgreichsten therapeutischen Wege zur Genesung, aber nicht die Lösung für alle. Es liegt daher in der Verantwortung des Therapeuten, seinen Klienten auf die vielfältige Welt der Gruppengemeinschaften aufmerksam zu machen und ihn zu ermutigen, sich einer Gruppe anzuschließen.
Es ist ein Fehler, diesen Weg zu erzwingen, und es ist ein Fehler, keine Möglichkeiten zu bieten, alternative Ansätze zu erkunden.
Es gibt viele Wege zur Genesung, und die Aufgabe des Therapeuten besteht nicht darin, den Klienten in eine Falle zu locken, sondern ihm zu helfen, seinen Weg zur Genesung zu finden – auch wenn dieser Weg nicht der ist, der zum Erfolg auf dem Therapiestuhl führt.
Bibliographische Daten des Buches: Edward J. Khantzian (2018): Treating Addiction: Beyond the Pain. Collected Works, 2000-2016. Rowman & Littlefield. Lanham – Boulder – New York – London.
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