Sucht ist definiert als die „Gewöhnung an ein schädliches Verhalten, das der Süchtige gegen seinen Willen wiederholt“. Bei der Behandlung von chemischen und Verhaltenssüchten gibt es heute ganz neue Ansätze.
Nach dem traditionellen Verständnis ist Sucht eine Krankheit, die nicht geheilt, sondern nur kontrolliert werden kann. Die moderne neurowissenschaftliche und psychologische Forschung legt jedoch nahe, dass es sich bei einer Sucht eher um einen Anpassungsversuch des Menschen an eine ausweglose Situation handelt. Im Hintergrund stehen Leiden, Hilflosigkeit, Entfremdung vom eigenen Körper und Einsamkeit. Wenn wir Sucht auf dieses Weise verstehen, können wir gleich die Wege zur Genesung erkennen.
Inhaltsverzeichnis
Sucht und Abhängigkeit
Was ist eine Abhängigkeit?
Nach Gábor Máté kann Abhängigkeit als ein Verhalten verstanden werden, an dem wir trotz seiner Schädlichkeit festhalten.
Es handelt sich um eine zwanghafte Bindung, die die Person nicht kontrollieren kann. Das Suchtverhalten kehrt von Zeit zu Zeit wieder oder verursacht zumindest ein schmerzhaftes Verlangen, wenn der Süchtige keinen Zugang zum Objekt seiner Sucht hat. Der Entzug des Objekts des Verlangens verursacht Reizbarkeit, Unruhe oder Angst. Das Suchtverhalten ist ein innerer Automatismus, der gegen den Willen aktiviert wird.
Zentrifugale Dynamik der Abhängigkeit
Das Wesen der Sucht besteht darin, dass sie die Persönlichkeit von ihrer eigenen Mitte und Präsenz nach außen drängt.
Wer süchtig ist, kann sich nicht auf sich selbst konzentrieren, kann nicht bei sich sein. Man verliert das Gefühl für den eigenen Körper. Es wird unmöglich, Intimität zu erleben, und die meisten Menschen können sich nicht auf alltägliche Aktivitäten konzentrieren. Man muss kein Alkoholiker sein, um diese Erfahrung zu machen: Kaufsucht, Nikotinsucht oder Spielsucht haben den gleichen Effekt.
Jeder kann beobachten, was passiert, wenn man Lust hat. Man verspürt weder Hunger noch Durst, viele Menschen merken nicht, dass sie frieren oder Schmerzen haben. Das Denken wird eingeengt, man verliert den Kontakt zum eigenen Willen und ist nicht mehr in der Lage, sein Handeln bewusst zu steuern.
Es geht nicht darum, wo man ist, sondern wo man nicht ist. Es ist nicht innen, sondern außen: Die Persönlichkeit ist aus ihrem inneren Zentrum getreten und kreist nur mehr um das Objekt der Sucht.
In diesem Gravitationsfeld haben die wahren Bedürfnisse der Persönlichkeit keine Priorität mehr. Worte der Alltagssprache beschreiben genau, was geschieht: gefangen sind in der Maschine, abrutschen, hineingesogen werden, hineinfallen, zurückfallen. In all diesen Ausdrücken steckt die Trägheit des Menschen und das Abdriften in die Sucht. Die Sucht treibt sich selbst an, sie braucht keine Ressourcen, keine Verstärkung von außen.
Wie kommt es zu dieser Funktionsweise?
Der Mythos der abhängigen Persönlichkeit
Zunächst sollten wir klären, was nicht dazu führt.
Es ist üblich, Menschen mit einer Suchterkrankung als Abhängige zu bezeichnen. Jemand gilt als Suchtpersönlichkeit, wenn er eine genetische Veranlagung hat, eine Verhaltens- oder Substanzabhängigkeit zu entwickeln.
Das ist irreführend: Es gibt genetische Faktoren, die an der Entwicklung von Sucht beteiligt sind, aber das Ausmaß, in dem diese Faktoren zum Tragen kommen, hängt von einer Reihe anderer, wichtigerer Faktoren ab. Außerdem: Es gibt kein Gen oder eine genetische Veranlagung, die für Sucht verantwortlich ist.
Das Konzept der Suchtpersönlichkeit impliziert, dass alle Suchtkranken gleich sind. Das stimmt nicht: Jeder wird auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Ausmaß anfällig für eine Substanz, und jeder geht anders damit um. Es gibt Gemeinsamkeiten, aber wichtiger sind die Unterschiede.
Suchterkrankungen wurzeln zum großen Teil in Lebensereignissen und sozialen Situationen, die die persönliche Entwicklung und das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft behindern. Und diese individuellen psychologischen Faktoren können verändert und beeinflusst werden. Es ist wichtiger, sich auf diese Faktoren zu konzentrieren, als jemanden einfach als süchtig zu bezeichnen. Schauen wir uns diese Faktoren an.
Wie kann ich einen geliebten Menschen dazu bringen, Hilfe beim Ausstieg zu suchen?
Abhängigkeit und Trauma
Roland Voigtel, Edward J. Khantzian, Peter A. Levine und Bruce K. Alexander sind sich einig, dass Sucht eine Erfahrung ist, die das Gefühl der Sicherheit, das Vertrauen in die Welt und die menschlichen Beziehungen des Süchtigen grundlegend erschüttert hat.
Hinter der Abhängigkeit verbergen sich Leid, Trauma und Einsamkeit.
Das kann ein Unfall sein oder der Verlust eines geliebten Menschen. Es kann sich also um eine schwere, einmalige Tragödie handeln. Es kann aber auch sein, dass jemand in seiner Kindheit und Jugend nicht die elementare Erfahrung der emotionalen Einstimmung, der Harmonie gemacht hat: Das heißt, dass die Eltern ihr Kind nicht nur geliebt und umsorgt haben, sondern auch Tag für Tag emotional mit ihm verbunden waren und ihm ein tiefes Gefühl von Trost und echter Zugehörigkeit vermitteln konnten. Das Fehlen eines solchen Gefühls wird als Entwicklungstrauma bezeichnet.
Ein Trauma ist eine Abwehrmaßnahme des Nervensystems: Es trennt den Menschen von seinem inneren Erleben. Dies ist notwendig, weil diese Erfahrungen schmerzhaft und belastend waren und unterdrückt werden mussten, um überleben zu können. Das Nervensystem trennt sich aber nicht nur von der spezifischen traumatischen Erfahrung, sondern stumpft das gesamte emotionale Erleben ab. Dies geschieht besonders häufig bei Opfern von Entwicklungstraumata.
Hier kann eine Abhängigkeit entstehen:
- Eine Person, die von ihrem eigenen Körper und ihren eigenen Gefühlen abgeschnitten ist, benötigt möglicherweise Drogen, um den Schmerz weiter zu dämpfen und so den neurologischen Prozess der Betäubung der durch das Trauma ausgelösten Gefühle zu unterstützen. In solchen Fällen kann der Konsum von Alkohol oder Drogen Teil des Abwehrsystems sein. Die Sucht ist in diesem Fall genauso zerstörerisch wie sonst auch, aber sie hat für die Person eine nützliche Funktion.
- Da die traumatisierte Person aus der Welt gefallen ist und nichts hat, woran sie sich festhalten kann, können Drogen Stabilität und Zuflucht bedeuten. Der Süchtige hat das Gefühl, dass er niemanden hat, dem er wirklich nahe sein kann, aber die Droge gibt ihm Sicherheit, auch wenn sie ihn umbringt.
- Die Sucht wiederholt auch die Hilflosigkeit, die man während eines Traumas erlebt. So wie man sich während des Traumas hilflos fühlt, fühlt man sich auch gegenüber der Sucht hilflos. Das Trauma hat einen zu Fall gebracht und beraubt, die Sucht hat ihn hinweggefegt. Diese beiden Erfahrungen haben viel gemeinsam. Tatsächlich verursachen stoffgebundene Süchte in allen Fällen ein besonderes körperliches Trauma, da im Suchtzustand giftige Chemikalien in den Körper freigesetzt werden.
Bodenlosigkeit und Einsamkeit
Hinter der Abhängigkeit verbirgt sich oft eine besondere Form der Traumatisierung: die Einsamkeit. Das Gefühlsleben eines Menschen kann nur in der Gemeinschaft mit anderen erfüllend sein. Intimität, Liebe, Freundschaft, ein familiäres Zuhause und die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft sind Grundbedürfnisse jedes Menschen. Wer Tag für Tag der intimen menschlichen Nähe beraubt wird, leidet ständig, auch wenn er sich an diesen Zustand so gewöhnt hat, dass er ihn gar nicht mehr wahrnimmt.
Einsamkeit kann auch entstehen, wenn wir uns in der Hektik des Alltags nur noch auf die Arbeit konzentrieren und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen vernachlässigen. Die ständige Angst vor Hektik und existenzieller Unsicherheit schwächt die zwischenmenschlichen Bindungen, und so suchen und finden wir oft Zuflucht in süchtigen Ersatzhandlungen: Schönheitssucht, zwanghaftes Sporttreiben, Essanfälle und jede andere Sucht sind bei Menschen, denen es an enger menschlicher Begleitung mangelt, häufiger anzutreffen.
Die Tragödie eines abhängigen Lebens
Fassen wir zusammen, was wir bisher festgestellt haben:
- die Sucht stumpft die Gefühlsfähigkeit ab;
- sie traumatisiert den Menschen;
- sie isoliert von anderen Menschen;
- sie greift das Zentrum emotionaler Stabilität und den Ort menschlicher Beziehungen an.
Ein Trauma führt zur Sucht, und die Sucht wiederum führt zu einem Trauma, das die Sucht erneut auslöst. Das Leben des Süchtigen ist also ein Leben in einem Karussell. Die Abhängigkeit gräbt sich immer tiefer in das Loch, das das Trauma gegraben hat. Je tiefer das Loch, desto weniger sieht man sich selbst, die anderen und die Möglichkeit eines erfüllteren Lebens.
Der Sinn des menschlichen Daseins besteht darin, sich selbst zu erkennen und in Gemeinschaft mit anderen zu leben: zu lieben, zu erziehen, zu lernen, zu umarmen. Die Sucht beraubt uns unweigerlich all dessen und ersetzt jeden lohnenden Moment des Daseins durch eine Flasche Bier.
Sucht und Selbsterkenntnis
Abhängigkeiten entstehen nicht durch böse Drogen, sondern durch unerfüllte menschliche Bedürfnisse. Deshalb lösen oft starke Gefühle ein Suchtverlangen aus. Angst, Hoffnung, Sehnsucht, Liebe, Hass und oft auch Langeweile, die nichts anderes ist als ein Grundgefühl von uns selbst, wenn wir nichts haben, um es zu füllen. Je stärker ein Gefühl ist, desto stärker kann die Sehnsucht sein.
Und welches tiefe Gefühl auch immer aufblitzt, das Fangeisen der Abhängigkeit schnappt zu wie eine Rattenfalle. Die Sucht ist ein Parasit der Gefühle. Und genau das gibt denen Hoffnung, die sich aus den Fängen der Sucht befreien wollen.
Der Schlüssel zur Genesung liegt darin, dass der Süchtige beginnt, diesen Grundbedürfnissen und Emotionen Aufmerksamkeit zu schenken. Es ist selten möglich, mit der Sucht aufzuhören, indem man sich immer wieder zwingt, morgen ein neues Leben zu beginnen. Die wirkliche Veränderung tritt ein, wenn sich die Person auf eine Reise begibt, nämlich jene der Selbstentdeckung, und emotional reiche menschliche Beziehungen aufbaut.
Es gibt viele Möglichkeiten, mit dem Weg von der Sucht zu beginnen. Hier sind einige Möglichkeiten:
- Verhaltenstherapeutische Ansätze können für sich selbst bewusste, gut funktionierende Süchtige sehr hilfreich sein. Es wurden viele kreative Methoden entwickelt, um die Abhängigkeit zu kontrollieren und die Suchtreflexe des Gehirns neu zu „verkabeln“. Sie zielen nicht auf die Willenskraft ab, sondern helfen den Süchtigen, ihr eigenes Gehirn effektiv zu „hacken“. Ein gutes Beispiel dafür ist das Buch von Prochaska, Norcross und DiClemente, Ein wirklicher Neuanfang.
- Die Gruppen der Anonymen Alkoholiker haben weltweit vielen Menschen geholfen, ihren Alkoholismus in den Griff zu bekommen. Die Anonymen Alkoholiker versprechen nicht, die Teilnehmer zu heilen, aber sie versprechen, eine einladende Gemeinschaft zu bieten und zu helfen, die Sucht für den Rest des Lebens unter Kontrolle zu halten. Die Anonymen Alkoholiker organisieren Gruppen für eine Vielzahl von Süchten und sind auch in kleineren Gemeinden zu finden.
- Dann gibt es die traditionelle Psychotherapie. Die klassische Form ist die Gesprächstherapie, bei der man in einem Sessel sitzt und in Ruhe über sich selbst spricht und nachdenkt. Psychotherapie ist eine große Reise zu sich selbst und kann helfen zu verstehen, warum man trinkt, raucht oder Drogen nimmt.
- In Deutschland gibt es heute wenige bekannte Schulen für körperorientierte Therapien. Sucht wird durch Trauma verursacht, und Trauma lähmt das Nervensystem und den Körper. Körperorientierte Therapien setzen genau hier an. Hier hat man die Möglichkeit, die Suchtimpulse in Ihrem Inneren nicht nur zu verstehen, sondern auch durch konkrete körperliche Prozesse zu lösen.
- Teil einer Gemeinschaft sein. Eines der besten Mittel gegen Sucht ist die enge Einbindung in die örtliche Gemeinschaft, sei es der örtliche Sportverein, die örtliche Kirche, eine Gruppe von Freunden oder sogar ein Yoga-Club. Je mehr menschliche Beziehungen man aufbaut, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man ein „Trostpflaster“ braucht.
Was auch immer du wählst, es wird gut sein. Es wird nicht gut sein, weil man sofort die richtige Lösung findet. Jedem wird auf andere Weise geholfen. Das Beste, was man tun kann, ist, sich für eine zu entscheiden, sie auszuprobieren und zu sehen, was sie einem bringt. Wichtig ist, dass man, wenn man das Gefühl hat, dass ein Weg nicht funktioniert, nicht jahrelang feststeckt, sondern den nächsten ausprobiert. Man muss in Bewegung bleiben und spüren, wie man Monat für Monat aus dem Loch herauskommt.
Für das eigene Trauma und die eigene Sucht ist man nicht selbst verantwortlich, und man sollte sich keinen Moment dafür schämen. Aber nur man selbst kann am meisten für die eigene Genesung tun.
Weiterführende Literatur
- Edward J. Khantzian (2018): Treating Addiction: Beyond the Pain. Collected Works, 2000-2016. Rowman & Littlefield. Lanham – Boulder – New York – London.
- Markus Gastpar – Karl Mann – Hans Rommelspacher (1999): Lehrbuch der Suchterkrankungen. Thieme, Stuttgart.
- Roland Voigtel: Sucht. Berlin, Psychosozial Verlag.
Häufig gestellte Fragen
Was bedeutet das Wort Abhängigkeit?
Abhängigkeit bedeutet, von einer Substanz oder einem Verhalten abhängig zu sein. Die Bedeutung von Abhängigkeit ist Sucht. In der deutschen Sprache sind Sucht und Abhängigkeit gleichbedeutend.
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